Sonntag, 17. Dezember 2017

Alice und der Gärtner VII

Alice
7 Episoden

7. Episode
Früher Nachmittag im späten Frühjahr

Alice und der Gärtner



Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben 
und illustriert von der Autorin im August 2017


 
“Alice!”, es tönt und schallt aus dem Herrenhaus, das groß und einsam auf seinem Hügel in der klaren Frühlingsluft liegt.

Alice hat den Gärtner beklaut. Die Sorge um Löwenmäulchen und Tomaten, das Wissen um den Schnitt von Bäumen, Sträuchern und Beeren, die Pflege von Blumenrabatten, Gemüsebeeten, Kieswegen und Rasen - das alles gehört nun ihr.
Alice hat den Gärtner belauscht, alles aus ihm herausgezogen und     
-gesogen. Nun ist er nur noch eine leere Hülle. Ein Phantom, weiß Alice.
Und Doktor Grau ist wieder außen vor. Er ruft, weil er ahnt, weil er weiß, dass er nichts weiß: “A-lice!”
Das Glas vibriert in den Fensterrahmen des Herrenhauses, der Kater huscht schreckhaft davon und bleibt verschwunden.

Wenn jemand stirbt, dann legt man ihm einen Samen unter die Zunge. Das hat Alice irgendwo, irgendwann gehört, und sie trägt dieses Bild nun als Wissen in sich.
Sie sieht die Portraits der Ahnengalerie in den Fluren des Herrenhauses vor sich. Hohe Herren und ihre Frauen: Morsche Bäume wachsen unter ihren Zungen hervor und heraus aus den gold gerahmten Ölbildern, an den mit dunklem Holz vertäfelten Wänden im Haus des Doktor Grau entlang. Zottelige Wurzeln quellen aus den Rändern der Bilderrahmen und krallen sich an den Holztäfelungen fest.
Was ist mit dem Gärtner?
Ein Phantom ist kein Toter…
Doch Alice sieht das Gesicht des Gärtners dicht vor sich, bleich und hinübergegangen schwebt er seiner Ahnengalerie entgegen. Seine Augen sind geöffnet, der wasserblaue Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne gerichtet. Welchen Samen soll sie ihm unter die Zunge legen?
Laubbaum oder Nadelbaum? Tanne, Linde oder Kernobst? Apfel, Birne, Quitte?

All die Ausdrücke, die Namen und Wörter, die Alice dem Gärtner abgelauscht hat, nutzt sie nun, um ihre Gedanken in einem großen Garten mit Wegen aus Begriffen und Wort-Anlagen spazieren zu führen. Gedankenbotanik.

Sie denkt an Palmen. An ferne Länder. An das Meer, das sie nur von Bildern kennt. Dort, im unheimlichen Herrenhaus hängt eines über dem Kaminsims. Aus dem finsteren, bleigrau-grünen, sich aufbäumenden Meer mit schäumenden Wellen ragen sinkende Schiffe und Ungeheuer hervor. Alice spürt das Bleigrau und das Salz des Wassers aus diesem Bild gelöst in sich selbst.

Händeschütteln. Da steht Doktor Grau und schüttelt dem Gärtner die Hand. Merkt nicht, dass der nur eine Hülle ist! Er hängt an Doktor Graus Hand wie ein leerer Handschuh.

Alices Augen sind benetzt mit dem Wasser ihres Brunnens. Ein Wind hat ihr gerade einen Sprühregen des Wassers aus ihrem Brunnen dort vor der Auffahrt herübergeweht. Die Tropfen leuchten hellblau auf ihrer Haut und in ihren Augen.
Sie sieht nicht nur den Gärtner als Hüllenwesen und Phantom, sie sieht nun auch noch Doktor Graus Skelett aus seinem Körper heraus leuchten.
Unter seiner Zunge liegt schon ein Samen.
Der Samen eines knorrigen Baumes aus einer Gruselgeschichte liegt unter der sich wie Wurzelwerk wölbenden Zunge, die sich nun ächzend bewegt und verschiebt, um ein Wort zu formen und durch die Kehle wie aus der Unterwelt heraus zu rufen: “Alice!”.

Der Gärtner hat wohl etwas über sie gesagt, und nun soll sie kommen.  Sie folgt, gehorcht, geht zu den beiden. Tanzt, im Rausch des magischen Wassers, das sie benetzt und kühlt an diesem schon heißen Tag im späten Frühjahr.
Das Gärtnerphantom schwankt hin und her, Doktor Graus Knochen klappern hart aneinander.
Sie beide beschuldigen Alice. Sie behaupten, Alice habe alle Narzissen in der Rabatte direkt vor der Terrasse, dem Eingang zum Herrenhaus, geköpft.

Alice formt ihren Mund zu einem: “o”. Sie schnalzt mit der Zunge: “ge - köpft?”
Narzissenköpfe, schwebende, gelborangene Lichter… sie weiß nicht wohin damit - - - könnte eine Weide zum Gärtner passen?

Der Baumsamen einer Weide und Narzissenköpfe liegen weit auseinander. Das heißt nicht, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Weiden und Narzissen könnten sich verstehen.
Narzissenzungen trällern hübsche Liedchen, sie haben ein Vibrato, ein Tremolo, einen Sporan; die Weiden aber summen, klagend und tief; sie bilden weiche, schwere Klangteppiche, die sich auf dem Wasser niederlassen und davonschwimmen wie zarte Flügel. Orpheus und Ophelia.

Das alles aber, und das weiß Alice, ist absolut keine Erklärung für ihr Vergehen. Sie kann dazu nichts sagen. Geköpft?
Sie tänzelt auf der Stelle, sie erstarrt. Da liegen die Narzissenköpfe auf dem herrschaftlich gepflasterten Terrassenplatz und verdrehen die Augen.

Doktor Grau schaut kalt und böse auf das Kind. “Schon wieder!”, hört sie ihn mit klirrender Stimme sagen, und: “nicht noch einmal!” Dass es nun endgültig reiche, sagt Doktor Grau.
Von einer Strafe ist dann die Rede, von der erzieherischen Notwendigkeit einer dieses Mal harten Strafe.

Alices Gesicht verfinstert sich.
“Zu Hilfe!”, ruft sie den Geköpften zu, und die leeren Stängel vorm Herrenhaus wiegen sich wie ein Chor grüner Schlangenleiber im Mezzosopran.
“Einsperren!”, hört Alice, “dunkel”.
“Stockdunkel”.
“Zu Hilfe!”, ruft sie nun plötzlich in großer Not.
Stockdunkel, das bedeutet große Not!
Seenot.
Ungeheuer steigen aus der Tiefe auf, Masten eines Herrenhausschiffes bersten auf hoher See.

“Zu Hilfe!”

Blitzschnell lösen sich nun die Schlangenleiber von ihrer Rabatte und stürzen auf Doktor Grau zu. Sie winden sich um seine Gelenke und fesseln ihn. Gleichzeitig rollen die Narzissenköpfe heran; wie Kanonenkugeln auf Schiffsplanken donnern und grollen sie, springen auf einmal in die Höhe und treffen mit voller Wucht Doktor Graus Schädel, so dass es kracht und splittert. Im selben Moment, noch bevor man Blut sehen kann, stülpt sich die Hülle des Gärtners als Sack über Doktor Graus gefesseltes Skelett und schleppt sich mit seiner Beute zu einer Öffnung am Herrenhaus, ganz an der hintersten Ecke der Terrasse. Dort ist ein Fensterloch, das in den tiefen, dunklen Keller führt. Das Gärtnerphantom mit dem nun unsichtbaren Doktor verschwindet im Stockdunkel unter dem Herrenhaus, die Flotte der exekutierten Narzissenköpfe rollt hinterher wie eine Schar Lemminge.
“Halleluja”, singen sie im Chor. Man hört ihr Echo im Unterleib des Herrenhauses widerhallen, bis es sich dort verloren hat.

Alice legt einen Baumsamen in die Erde. An einer schattigen Stelle in der Nähe ihres Brunnens soll eine Weide wachsen.

Doktor Grau öffnet die Flügeltür des Herrenhauses und tritt auf die Terrasse. Er sieht das Mädchen Alice im Garten spielen. Dort am Brunnen hält sie sich am liebsten auf, besonders, wenn es so warm ist.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag. 



Eva Wal

1. Episode auf diesem Blog im Post 11. September 2017 
2. Episode auf diesem Blog im Post 24. Oktober 2017
3. Episode auf diesem Blog im Post 11. November 2017
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