Sonntag, 10. Dezember 2017

Alice: Labyrinth oder Schnee im Dorf VI

Alice
7 Episoden

6. Episode
  Mittag im Winter

Labyrinth oder Schnee im Dorf



Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben 
und illustriert von der Autorin im August 2017



“Jeder Gedanke ist multidimensional”, haucht Alice in die Luft, die vor ihrem Mund steht wie eine weiße Wand. Gefroren die Luft, der Himmel, die Welt. Weiß das Gras. Knisternd, brechend, wenn Alice darüber geht, läuft, rennt, barfuß.
Sie hört das Gras krachen.

Mit Mütze und Schal steht Alice inmitten ihres gerade erst Gedachten.

Die Schuhe hat sie vergessen oder verloren.

Es wird schneien.

Schnee kommt vom Himmel herab, Durcheinanderflocken.

Das Haus, in dem sie eben noch stand, ist zu einem wahren Labyrinth geworden. In einem Moment nur sind die Flure zusammengewachsen, ist der Grundriss explodiert, haben sich die Räume aufgefächert, die Zimmer aufgespalten - wie auch immer das passiert ist.

Alices Gedanken haben sich festgeheddert, wie Strickmaschen verfangen, sind durcheinander geraten, eins rechts, zwei links, zwei rechts, eins links… links, rechts, rechts, links herum und plumps… Wie schade!
Alices Gedankenkäfige, ihre Vogelbauer, sind Durcheinandergezwitscher und -gezwatscher, einfach un-er-träg-lich!
Niemand weiß von ihrer Existenz.
Niemand von ihrer Gegenwart, ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunft.

Sie        ist        das        Mädchen        Alice.

Reibt sich die Hände aneinander. Die Hände stecken in roten Handschuhen. Es schneit.

Alice hat Doktor Grau umgelegt. Ein rauchender Colt liegt im Schnee.
Ein Röcheln dringt aus dem gefrorenen Weiß.

Wer war er, dieser Doktor Grau?
Ein Mensch? Ein Untier? Ein Wolf?

Alice hat sich im Spiegel angeschaut, gerade eben noch, als sie in diesem Haus war, das jetzt plötzlich zu einem Labyrinth geworden ist. Es gibt keinen Beweis für ihr Zusammenleben mit Doktor Grau in einem Haus.

“Lange genug”, zischt Alice und bringt sich selbst auf. Sie schreit, dann brüllt sie diese zwei Worte, harmlose Aneinanderreihungen unschuldiger Worte, in den harten Frost: “Lange genug!”

Glas bricht, springt, Labyrinthsplitter überall; blindes, weißes Schneeglas.

Blendend helle Gedanken und gleißende Bilder verlassen Alice.
In einem leeren Dorf stehen sie mit ihr zusammen herum wie Silhouetten. Gärtner, Kutscher, eine alte Bäuerin, Kinder passieren die Dorfstraße an ihr vorbei, dann verschwinden sie in Alices Pupillen. Werden verschluckt vom Augendunkel. Alices Pupillen sind große Tore, die das Dunkel hüten.
Bedeutungslose Bilder, denkt Alice, Hüllen, Unterhaltung.
Es fällt ihr nichts besseres ein.

“Mord!” Das Wort stolpert aus Alices Mund wie ein Gefangener, der den Häschern entkommen will.
Wieder hinein in den Kerker! Rumms, das Kerkergitter fällt herab. Alice beißt die Zähne aufeinander. Nun geschieht das Ungeheure: der Gefangene entkommt! Der Kerker öffnet sich. Eine Welle schäumt. Auf ihrer Zunge fährt er wie auf einem Boot aus ihrer Mundhöhle hinaus.

“Lauf!”, ruft Alice zum Mörder, zum Dieb, der mit Doktor Graus Leben wie mit einem Bündel unterm Arm davonrennt so schnell er kann.
“Lauf!”, ruft Alice abermals hinter ihm her. Behände und flink springen die Worte über Stock und Stein: “Lauf, lauf, Dieb, lauf, lauf, lauf!”

“Sehnsucht und Wahrheit”, seufzt Alice. Manche Worte sind Tänzer. Solche lässt sie auf ihren Handtellern tanzen. Alice streut die schönsten Worte und Gedanken - Sehnsucht - und - Wahrheit - wie Vogelfutter auf die unberührte Schneedecke. Mögen Vögel kommen! Rotkehlchen, Meise, Rabe, Fink, Amsel, Specht, Adler, Kormoran, Geier, Phönix.
Wieder ein Durcheinander, wieder zurück: Solche Worte, die schöne, kostbare Gedanken zeigen wie klares Glas, glitzerndes Kristall, in dem sich Kerzenlicht spiegelt und bricht, nimmt Alice in ihre zarten Hände und betrachtet sie bewundernd. Andere schöne Worte, von warmen, liebevollen Gedanken geboren, hebt sie aus ihrem Schoß wie Keimlinge, die sie einpflanzen mag in den unberührten Schnee.

Doch der Schnee ist kalt.

Eine Silhouette nähert sich, kommt auf der Dorfstraße heran; ein scharfer, schwarzer Schatten im Mittagslicht. Der Kater?

Auf den Vorgärten, den Gärten hinter den Häusern und auf den Dächern liegt eine dicke Schneedecke. Die Häuserwände stehen unverschneit aus den Gärten hervor. Dorfzähne. Zu beiden Seiten der Dorfstraße sind dreckige Schneewälle aufgetürmt.

Schreiben findet Alice mühsam. Sie schreibt niemals etwas auf. Ihre Hände stecken in bleiernen Handschuhen. Denken ist schon eine Anstrengung, die ihr alles abverlangt. Mag es an den Gedanken liegen. Brennende Achillesverse.
Wider die Erschöpfung!, Alice jagt die Gedanken fort.
Doch ein unscheinbares Wort schält sich aus allen Gedanken, bleibt. Das Mädchen Alice sagt zum Dieb:
“L A U F”.

Etwas ist durcheinander gekommen mit den Bildern. Das Labyrinth und das Dorf passen nicht zusammen, sie sind zu unterschiedlich. Sie sind auch keine Gegensätze, die sich anziehen könnten. Dennoch sind sie hier zusammengeraten. Der Gärtner, der Kutscher, die Bäuerin; sie haben sich hineingestreut wie Salz und Pfeffer. Der Dieb, ein Lebkuchenmann.
Die Figuren bilden eine Gemeinschaft mit unbestimmter Bedeutung für Alice. Sie haben eine unbekannte Aufgabe.

Alice zieht den Handschuh von ihrer rechten Hand. Sie bückt sich und hebt den Revolver auf. Sie richtet ihn auf den Dieb, der noch immer davonrennt und Spuren hinterlässt im Schnee.
“Lauf“, sagt sie ruhig.
Ihre Füße sind kalt.



Eva Wal

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