Montag, 11. September 2017

Alice - Wetterwechsel I

Alice
7 Episoden

1. Episode  


Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben
und illustriert von der Autorin im August 2017


Abend im Frühjahr
Wetterwechsel,

hat er zu Alice gesagt, sei nicht gut für ihr Gehirn.
Dieser Doktor Grau hat Theorien, die eigentlich niemand nachvollziehen kann; aber davon weiß Alice natürlich nichts.
Bei diesem wunderschönen Sonnenschein wandert sie im Garten herum. Sie sieht reizend aus, ihre zierliche Gestalt in nettem Kleidchen mit bunten Bändern verziert. Doch der Kopfschmerz fasst jeden Gedanken wie mit Zangen an und drängt ihn in die entlegensten Ecken ihres hübschen, lockenbedeckten Schädels.

Doktor Grau gab ihr Tabletten, die sie mit diesem blauen Wasser aus dem Brunnen im steinernen Vorgarten herunterspülte.

Allmählich geht das Kopfweh weg, aber auch die Gedanken verblassen, verschwinden.

Am Nachmittag kommt die Katze.

Verlorene Erinnerungen sind nicht verloren; irgendwo bleiben sie im Körper gespeichert.
Die Gedanken sind verwandelt. Labile Gestalten.

Alice ist beinahe schmerzfrei.
Die Katze streift um ihre Beine. Der Schnittlauch blüht, Iris, Erdbeeren, Klee. In diesem Frühjahr blüht alles auf einmal.
Primeln, Rosen, Astern.

Alice steht im Garten, schmerzlos, erinnerungslos, gedankenverloren. Sie möchte gerne wurzeln, in die Erde hinein.
Ihre Füßchen stehen nebeneinander wie Geschwister. Sie spreizt die Zehen und gräbt sie in den Boden.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nacheinander ein.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nochmals ein. Dann sinken die Fußsohlen, diese überaus empfindlichen Körperteile, in den Grund. Langsam, wie zwei Kähne, die sich allmählich durch ein Leck mit Wasser füllen.

Die schwarze Katze schaut Alice gelbäugig zu. Doktor Grau hat ihr Milch gegeben.
Sie leckt einen feinen Milchbart ab.

Alices Füße stecken bis zu den Fußgelenken in der kühlen, lehmigen Erde. Sie spürt kraftvolle Muskelkontraktionen an der empfindlichen Haut ihrer Fußsohlen. Erster Kontakt mit Regenwürmern. Berührung: glatt, gerillt und kräftig.
Alice wird tiefer gezogen. Sie spürt einen Sog. Ihre Fersen ähneln Wurzeln, Knollen, Pflanzenzwiebeln, wie sie nun unter der Oberfläche stecken, und aus ihnen wollen zwei Waden wachsen, zwei weiße Beinchen als Stiel einer Pflanze. Es treibt aus diesen Fersenknollen, zieht in Alices Sehnen, Waden, Knien, hinauf und hinunter.

Alices Nerven werden zum feinen Wurzelgeflecht.
Brennnesseln sind wie Zündschnüre, ziehen sich unberechenbar, lang und dünn durch das Erdreich. Kriegerinnen, Amazonen mit Giftpfeilen.
Alice findet das Gift der Brennnessel sehr belebend, es bekommt ihr. Vielleicht ist sie eine Amazone.

Löwenzahnwurzeln stecken wie Pfähle im Grund. Fest und glitschig. Sie weisen in die Tiefe. Tiefenmesser. Erdwächter.

Alice biegt ihren Körper zurück, hält ihr Gesicht dem blauen, von schneeweißen, strahlenden Wolken bevölkerten Himmel entgegen.
Ihre Augen sind voller Wasser, aus einem Mundwinkel rinnt ein dünner, sämiger Speichelfaden. Aus ihren Wangen weicht das Blut. Sie spreizt ihre Finger, dreht die Handinnenflächen nach oben. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt die Luft die Fingerchen. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt sie nochmals die Fingerchen und die ganze Hand, und dann die ganze andere Hand.
Nun zieht die Erde kräftiger an Alice. Sie nimmt ihre Waden.
Alice zittert vor Aufregung, Freude, Angst. Sie öffnet den Mund. Die gelbbraunen Locken hängen von ihrem Kopf wie wildes Gras; sie wachsen der Erde zu.

Die Katze gähnt. Sie öffnet ihr Katzenmaul mit den spitzen Zähnen. Die gelben Augen blinken wie Leuchtturmfeuer darüber hervor.

Alice kennt nicht jede Wurzel, jedes Tier. Nicht alle sind ihr angenehm.
Da Nacktschnecken und Spinnen. Dort Waldmeister, Minze, Holunder.

Alice sinkt.

Die Katze setzt sich auf den Boden und reckt ihren Hals in Katzenart. Sie schaut und stellt die Ohren auf. Ihre Schnurrbarthaare bewegen sich in einer leichten Brise.

Alice spürt sich fest gehalten, eingesogen. Die Erde steigt über ihre Knie, an ihren Schenkeln empor. Eine krümelige Masse. Ein starker Geruch geht von ihr aus.
Alice schließt die Augen. Der Kopfschmerz ist vergessen.
Doch sie ist einer Ohnmacht nahe.

Die Katze spreizt ihre Pfoten. Für einen kurzen Moment werden die Krallen sichtbar.

Ein taumeliges Gefühl erhebt sich in Alices Kopf. Möglicherweise von dort, wo Erinnerungen kauern.
Aus Alices Kehle dringen eigenartige Laute. Unbekannte Naturlaute.
Die Erde duftet. Sie steigt weiter an ihr empor. Berührt sie, wo sie noch nie so stark berührt wurde. So direkt. So dringlich.
Erstmals sieht die Katze sie an. Es ist ihr, als würden sich die Katzenaugen zu Schlitzen verengen, während ihre eigenen Augen sich wie von selbst weiten. Sie spürt, wie Flüssigkeit aus ihren Augen dringt. Milch fließt aus ihnen hervor und läuft wie ein Wasserlauf in ihren Mund, mitten in ihren schweren Atem hinein.

Die Katze schaut aufmerksam zu.

Alice steckt bis zur Hüfte in der Erde. Ihr Kleid ist glockenförmig um sie herum ausgebreitet, die Bänder liegen lose darauf. Sie sieht nun aus wie eine Blume auf der Wiese. Rittersporn, Pfingstrose, Pusteblume, Alice.
Schmetterlinge trudeln durch die Luft.

Alice legt die Hände auf die Erde. Sie atmet etwas ruhiger.
Aus ihren Augen strömt unentwegt Milch.

Die Katze leckt sich das Mäulchen.

Ein Schmetterling fliegt um Alices Hand. Der Wind berührt ihr Lockenhaar.

Es hatte so lange geregnet. Viele Wochen lang. Kein Wunder, dass Doktor Grau Alice immer neue Medikamente gab, um ihre Stimmung aufzuhellen.
Alice nahm sie gerne, denn nur dann durfte sie zu ihrem Brunnen im steinernen Vorgarten gehen und die Medikamente mit dem köstlichen, hellblauen Wasser daraus herunterspülen.

Der strahlend blaue Himmel heute ist eine Sensation.
Blank gewaschen wie Alices Gesicht.

Die Katze lässt sich vom Schmetterling ablenken. Ihre Ohren zucken.
Wie sie nun weiter in die Erde hineingezogen wird, beginnt Alice zu singen.
Die Laute dringen aus ihr hervor wie die Milch aus ihren Augen. Langsam muss sie die Arme heben, als ob die Mutter ihr das Kleidchen ausziehen wollte. Die Erde erreicht bald Brusthöhe.

Alice sieht auf einmal die Dunkelheit des Erdreichs vor sich. Wie von selbst singt sie lauter. Manchmal schnappt sie nach Luft. Es wird dunkel sein unter der Erde. Ganz sicher ist es dort dunkel. Dunkel wie die tiefste Nacht. Die Erde besteht aus tausend schwarzen Katzen mit Erdfell und Wurzelkrallen.
Alice zückt Pfeil und Bogen und spuckt Brennnesselgift auf den Pfeil. Sie will sich bewegen, drehen. Auf einem Erdpferd reiten. Einem Licht entgegen. Es muss doch Erdlichter geben! Unterirdische Höhlen mit Leuchtern, an denen Erdlichter brennen.
Der Lehm wird ihr zu aufdringlich um ihren Körper herum.
Zu dominant. Mit kühler Gewalt umschließt er ihre Brust, ihre Seiten, ihren Rücken. Sie ist gefangen in der Erde. Ihre Knochen stecken in ihrem Körper fest. Das Erdreich umgibt sie unausweichlich. Was, wenn es sie loslässt?
Alice denkt nicht mehr.

Die Katze legt sich hin. Dreht ihren Kopf zur Seite und bettet ihn auf den Pfoten. Will sie einschlafen, oder kann sie Alice so besser beobachten?

Wolken ziehen über Alices Kopf. Schafe, Drachen, Hyazinthen, Disteln, Menschenfresser, Felsen, Gänseblümchen.

Nun steckt Alice bis zum Hals in der Erde in Doktor Graus Garten.
Seine Theorien sind null und nichtig.

Alice weint Milch und singt. Ihr Gesang klingt wie der eines kleinen Vogels mit einem großen Hall. Er zieht in den Halbschlaf der Katze.
Es ist, als ob sich die Luft von der Erde erhebt. Alice muss in einer Ohnmacht sein, sonst würde sie schreien. Die Grasspitzen berühren ihre Achseln, die zusammen mit den Schultern gefressen werden. Die Erde muss sich anstrengen, das Mädchen nun ganz in ihren Schlund zu ziehen. Sie zieht, saugt, drückt. Es ist eng und unangenehm. Alices Kleid, das auf dem Gras um sie herum ausgebreitet liegt, ist in Milch getränkt. Ihr Gesicht ist schneeweiß.
Sie ist taub und schmerzfrei, erinnerungslos.

Doch dort, unter der Erde, beginnen Erinnerungen in ihrem Körper zu erwachen. Sie tragen Pfeil und Bogen und Löwenzähne. Sie haben wildes Fell und Erdkörper. Noch sind sie klumpig und klobig.

Die Katze schläft, während Alices Gesicht im Grund verschwindet. Das Kinn berührt die Erde. Der Mund füllt sich, die Zunge wird zu Lehm. Die Nasenspitze, die Nasenlöcher, der Nasenrücken verschwinden zusammen mit den Wangen und den Ohren. Augenhöhlen, Augenbrauen, Stirn und zuletzt die Haare, der Scheitel entweichen dem Blick der tanzenden Schmetterlinge, der Luft, der Wolkenaufsicht.

Der Wind muss nun auf Alices Locken verzichten.

Die Katze schläft tief.

Es blühen Klee, Rittersporn, Adonisröschen, Ginster.

Die Welt um Alice kippt unmerklich, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
Das ist Alices Zauberei, unwissend legt sie den Schalter um.
Doktor Grau ahnt nicht, dass alle seine Tabletten nie wirkten.

Keine einzige hatte je Einfluss auf Alices Magie. Allein das blaue Wasser aus ihrem Brunnen verlor nie seine Wirkung.

Alice hat den Schalter umgelegt, und die Erde ist zu Wasser geworden. Wale, Fischschwärme, Haie und Seepferdchen ziehen um Alice herum, die in einer großen Weite schwebt und gleitet. Sie schwimmt, ein Mädchenfisch, bewegt sich mit den Strömungen.
Die Erinnerungen verlassen Alice und nehmen die Gestalten von Meerestieren und Pflanzen an. Regenwürmer sind zu Seepferdchen geworden, Nacktschnecken zu Thunfischschwärmen, Spinnen zu Krebsen, Kraken, Rochen. Korallenriffe gleichen buntem Wurzelwerk.
Unendlich reich und tief ist der Ozean. An seiner Oberfläche tanzen Schaumkronen wie die weißen Wolken über dem Horizont.

Alice hat Doktor Graus Garten verlassen. Der abendliche Wind hebt ihr Kleid vom Boden auf und trägt es hoch in die Luft. Dort segelt es mit den weißen Wolken, den Drachen, Menschenfressern, Pusteblumen, Felsen und Erdreitern bis übers Meer.

Einzelne Milane kreisen über dem verlassenen Garten, in dem noch ein Brunnen steht. Das hellblaue Wasser spritzt in einer hohen Fontäne in die Luft, schimmernd in der Abendsonne.

Die Katze wacht auf. Sie gähnt, reißt ihr Mäulchen auf, erhebt sich. Streckt ihre Glieder aus, nach vorne, nach hinten, spreizt die Tatzen, fährt die Krallen aus und wieder ein. Dann wandert sie durchs Gras davon auf Katzenart.



Eva Wal


Samstag, 2. September 2017

Das Große Fragezeichen

Eröffnung/ opening DAS GROSSE FRAGEZEICHEN/ The Big Questionmark by Diana Bell, 26. August, Remigiusplatz, Bonn, with Bezirksbürgermeister Helmut Kollig, Lord Mayor of Oxford and performance of poets from Oxford Stanza 2 and Dada war alles gut, Bonn - zur Feier der 70 Jahre Städtepartnerschaft Oxford-Bonn.

- to celebrate 70 years of Bonn-Oxford-twinning.

Bill Jenkinson, Eva Wal, Heike Keßler, Maria Müller, Louise Larchbourne, Andrew Shelton, Sharon D. Cohagan, Inge Milfull, Pat Winslow, Stella Shakerchi, Nelly Neukirchen

Fotos by Thomas Nicolaou, Oxford
Many thanks!

(c) Thomas Nicolaou




























www.thebigquestionmarkartproject.com 

Die letzten beiden Fotos: Theo